Schon die Denker der Antike waren fasziniert von der Beobachtung, dass aus einem Samenkorn eine Pflanze oder aus einem befruchteten Ei ein Vogel entsteht. Dem Samenkorn und dem Ei ist also bereits mitgegeben, was sich aus ihm entwickeln soll. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Auch wenn man keinerlei empirische Kenntnis vom inneren Aufbau eines Lebewesens hat, lässt sich eine fundierte Vermutung anstellen: Das Samenkorn und das Ei müssen einen Informationsspeicher besitzen, auf dem die Bauanleitung gespeichert ist, wie eine Pflanze bzw. ein Vogel aufgebaut sind und wie der Entwicklungsweg vom Samen bzw. Ei zum ausgewachsenen Weg zu beschreiten ist. Dank der Erkenntnisse der Molekularbiologie wissen wir heute, dass dieser Informationsspeicher aus einsträngigen RNA- bzw. doppelsträngigen DNA-Molekülen besteht. In mehrzelligen Lebewesen wie Pflanzen oder Vögeln wird die Erbinformation in sehr langen DNA-Molekülen im Zellkern aufbewahrt. In der DNA sind die Baupläne für die Proteine codiert, die eine Zelle benötigt. Da in jeder Zelle eines mehrzelligen Lebewesens weitgehend identische Kopien der DNA vorliegen, aber nicht jedes Protein jederzeit von der Zelle benötigt wird, muss eine Zelle zudem wissen, wann welcher Abschnitt der DNA abgelesen werden soll. Wie diese situationsabhängige Programmsteuerung realisiert wird, ist bislang nur in Ansätzen bekannt. Damit beschäftigt sich ein aktueller Forschungszweig – die Epigenetik.

Gut erforscht und verstanden ist bereits der Übersetzungsmechanismus von RNA bzw. DNA zu Proteinen. RNA und DNA bestehen aus einer Abfolge aus vier Basismolekülen – den Nukleinbasen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Der Bauplan für jedes Protein entspricht der Abfolge dieser Nukleinbasen in einem bestimmten Abschnitt im Erbgut. Ein solcher proteincodierender Abschnitt ist mit einer Start- und einer Stoppmarke versehen und wird Gen genannt. Jeweils drei hintereinanderliegende Nukleinbasen eines RNA- oder DNA-Moleküls codieren für eine bestimmte Aminosäure. Die DNA besteht aus zwei spiegelbildlichen RNA-Strängen. Wenn die beiden Stränge getrennt werden, lässt sich die DNA ablesen und in eine einsträngige RNA übersetzen. Wenn dann ein spezielles Protein, das Ribosom, ein solches RNA-Molekül entlangfährt, baut es parallel die jeweils zugehörigen Aminosäuren zu einem Protein zusammen.

Der genetische Code ermöglicht es jedem Lebewesen, gleichartige Proteine in hoher Stückzahl präzise immer wieder herzustellen. Proteine sind Arbeitsmaschinen, die vielfältige Funktionen in jeder Zelle übernehmen. So sind bestimmte Proteine beispielsweise in der Lage sind, andere essentielle Bestandteile von Lebewesen wie Fette, Zucker, Aminosäuren, Nukleinbasen, RNA und DNA aus anderen Molekülen herzustellen.

Die Entstehung des genetischen Codes ist einer der wichtigsten und faszinierendsten Sprünge in der Evolution des Lebens. Denn die Entstehung des genetischen Codes machte die frühen Formen des Lebens unabhängig von der mehr oder minder zufälligen Bereitstellung organischer Moleküle durch ihre Umgebung, da sich nun eine Zelle ihre Komponenten selbst herzustellen vermochte. 

Doch wie konnte es geschehen, dass die blinden Kräfte des Zufalls einen Programmcode hervorgebracht haben, der bis auf kleine Variationen von allen heutigen Lebensformen auf der Erde genutzt wird?

Um zu einer Hypothese zu gelangen, wie genetische Code entstanden ist, kann uns das Denkmodell von Emergenz und Submergenz helfen.

Den einen Ast kennen wir schon: Jede Zelle enthält mit den Ribosomen eine Sorte von molekularen Maschinen, die eine Abfolge von Nukleinbasen in die Aminosäuresequenz eines Proteins übersetzen können. Um zu einer sich selbst stabilisierenden Rückkopplung zu kommen, braucht es aber noch einen zweiten Ast – nämlich eine zweite molekulare Maschine, die umgekehrt die Aminosäuresequenz eines Proteins in eine Abfolge von Nukleinbasen übersetzen kann. Wenn beide Maschinen in räumlicher Nähe (z.B. in einer Zelle oder einem präzellulären Kompartiment) vorkommen, so reichern sich die RNA-Stränge und die korrespondierenden Proteine in einem lawinenartigen Prozess immer weiter an, da jedes neu hergestellte Protein wieder in RNA zurückübersetzt wird, die wiederum als Blaupause für neue Proteine dient. Dieser selbstverstärkende Effekt kommt natürlich nur in Gang, wenn beide Maschinen den gleichen Code verwendeten – ansonsten würde aus einem Protein A nach Übersetzung in RNA und Rückübersetzung ein anderes Protein B. 

Wenn also durch Zufall im Laufe der Evolutionsgeschichte einmal gleichlaufende Übersetzungsmaschinen für Protein => RNA und für RNA => Protein entstanden waren, dann hätten diese Maschinen sich selbst in großer Zahl in RNA-Molekülen codiert und sich anschließend aus diesen RNA-Molekülen wieder selbst hergestellt. Aufgrund dieses lawinenartigen Effekts setzte sich der zufällig entstandene genetische Code durch und wird heute von allen Lebewesen auf der Erde benutzt.

Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?

Molekulare Ablesemaschinen, die DNA bzw. RNA in Proteine übersetzen, kennen wir als Ribosomen. Sie gibt es in jeder Zelle in großer Stückzahl. Umgekehrt arbeitende Ablesemaschinen, die die Aminosäuresequenz von Proteinen in RNA zurückübersetzen, kennen wir aus heutigen Lebewesen hingegen nicht. Das ist jedoch überhaupt nicht verwunderlich. Gäbe es diese Rückübersetzungsmaschinen in Zellen, so würde die Proteinmischung der Zelle ständig repliziert und könnte sich nicht in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen oder dem Entwicklungszyklus der Zelle ändern. Das wäre total dysfunktional und unphysiologisch. Daher ist es nahezu zwangsläufig, dass diese Rückübersetzungsmaschinen im Laufe der Evolutionsgeschichte wieder verschwunden sind. Dass dabei die Übersetzungsmaschinen Protein => RNA verschwanden und nicht die Übersetzungsmaschinen RNA => Protein, ergibt sich aus dem Umstand, dass eine RNA-Matrize mehrfach zur Übersetzung in ein Protein genutzt werden kann, während der umgekehrte Prozess das abgelesene Protein zerstört. RNA bzw. die daraus gebildete doppelsträngige DNA eignen sich besser als Informationsspeicher, während Proteine weitaus versatilere Arbeitsmaschinen sein können.

Zwar findet man in heutigen Zellen keine Rückübersetzungsmaschinen, aber eine große Zahl an enzymatisch wirkenden Proteinen, die als Proteasen andere Proteine wieder in einzelne Aminosäuren zerlegen. Die Proteine einer Zelle haben daher nur Überlebenszeiten von einigen Stunden oder Tagen, bevor sie wieder in ihre Einzelteile zerlegt werden. In einer Zelle sind daher immer nur diejenigen Proteine vorhanden und aktiv, deren Bauanleitung gerade aus der Erbinformation abgelesen und durch die Ribosomen realisiert wird. 

Auch wenn es die hypothetischen Rückübersetzungsmaschinen  in heutigen Zellen nicht gibt, lässt es sich prinzipiell vorstellen, Proteasen mit einer Zusatzfunktion auszustatten, die es ihnen erlaubt, die Aminosäuresequenz eines abgebauten Proteins in eine RNA-Sequenz zu überführen. Proteasen „knabbern“ Proteine von einem Ende her an und spalten jeweils eine Aminosäure ab. Insgesamt nutzen Lebewesen rund 20 verschiedene Aminosäuren zum Aufbau von Proteinen. Welche Aminosäure also von einer Protease gerade abgespalten wird, könnte in einer zugehörigen Abfolge von RNA-Nukleinbasen „mitgeschrieben“ werden.

Vermutlich gab es beim Übergang von der präbiotischen zur biotischen Evolution viele verschiedene solcher molekularer Maschinen, die unterschiedliche Codierungen für die Übersetzung von RNA in Proteine und umgekehrt benutzten. Durchgesetzt hat sich derjenige Code, für den zuerst gleichlaufende hin- und rückübersetzende molekulare Ablesemaschinen entstanden. Daher gibt es einen universellen genetischen Code, der von allen heutigen Lebewesen verwendet wird.

Codetabelle des universellen genetischen CodesWenn man die Codetafel betrachtet,  welche Tripletts von Nukleinbasen für welche Aminosäure codieren, wird man eher den Eindruck gewinnen, dass der Code zufällig zusammengewürfelt wurde, als die Auffassung bestätigt sehen, dass ein göttlicher Demiurg den Code systematisch geplant habe. Ein Ingenieur hätte am Reißbrett vermutlich einen systematischer aufgebauten Code entworfen. Auf den ersten Blick scheint es also so, als hätte sich genauso gut eine beliebige andere Codierung in der Evolutionsgeschichte durchsetzen können, bei der die Tripletts für andere Aminosäuren codieren. Statistische Analysen mit Vergleichen zwischen verschiedenen hypothetisch möglichen Codierungen haben aber ans Tageslicht gebracht, dass die verschiedenen Codierungen gegenüber typischen Fehlerquellen wie Mutationen und Lesefehlern unterschiedlich tolerant sind. Der genetische Code, wie wir ihn heute in den irdischen Lebewesen vorfinden, zeichnet sich gegenüber anderen hypothetischen Varianten durch eine überdurchschnittlich hohe Fehlertoleranz aus. Bei näherem Nachdenken überrascht dieser Befund nicht, denn besonders fehlertolerante Codierungsvarianten hatten eine höhere Chance, zuerst eine fehlerfreie Hin- und Rückübersetzung zu verwirklichen. Der genetische Code ist also offenbar ein optimiertes Produkt der präbiotischen Evolution – was wiederum für unsere Hypothese spricht, dass es einst viele verschiedene Codier- und Decodiermaschinen gab, die sich hinsichtlich ihrer benutzten Codes unterschieden, unter denen sich dasjenige Paar durchsetzte, das zuerst über eine gleichförmige Übersetzung verfügte.

Die zufällige gleichzeitige Entstehung zweier gegenläufiger Maschinen, die den gleichen Code für Aminosäuren und Nukleinbasen verwenden, ist physiko-chemisch möglich, allerdings so unwahrscheinlich, dass man meinen könnte, vor einem Wunder zu stehen. Wenn man nicht glauben will, hier hätte ein göttlicher Demiurg gestaltend eingegriffen, so bleibt nur die Möglichkeit, dass eine lange Zeit und sehr viele Versuche zur Verfügung standen, um der Evolution zu dieser Lösung zu verhelfen. In der Tat hatte die Evolution auf der Erde dafür vielleicht drei Milliarden Jahre Zeit. Eine große Zahl an Versuchen kann es in dieser langen Zeit nur dann gegeben haben, wenn die benötigten Materialien – organische Moleküle wie Aminosäuren, Ribonukleinsäuren und Zucker – lokal in großer Zahl und hoher Konzentration zur Verfügung gestanden haben. Es muss auf der frühen Erde für lange Zeit ergiebige und verlässliche Quellen für diese Moleküle gegeben haben.

Wo diese Quellen vermutlich lagen, damit beschäftigt sich der Beitrag "Die Entstehung des Lebens".

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