Die Errichtung der Steinreihen muss für die Menschen in der damaligen Zeit eine gewaltige Kraftanstrengung bedeutet haben. Eine solche Leistung setzt eine größere Stammesgruppe voraus, die zu koordinierter Aktivität fähig und bereit war. Und es muss einen herausragenden Anlass gegeben haben, eine solche besondere Anlage zu schaffen.

Ein unmittelbarer Zweck ist nicht ersichtlich. Weder gibt es eine Ähnlichkeit mit steinzeitlichen Anlagen wie Stonehenge, die mutmaßlich der Himmelsbeobachtung dienten, noch mit kultischen Tempelanlagen. Die Steinreihen bestehen aus Menhiren, die einzelstehend als Grabstelen gedeutet werden. Demnach könnte es sich hier um ein Massengrab für mehrere Tausend Menschen handeln. Eine solche Zahl an Toten kann es in kurzer Zeit nur bei Ausbruch einer Seuche oder einer kriegerischen Auseinandersetzung gegeben haben.

Luftbild eines Steinfelds in Carnac

Der Anblick der Steinreihen weckt Assoziationen mit einer militärischen Formation. Es sieht so aus, als würden sich mehrere verbündete Heere einem gemeinsamen Feind stellen, der vom Meer her erwartet wird. Die Führer stehen jeweils an der Spitze ihrer Heere, symbolisiert durch die großen Steine. Herausragende Kämpfer sind auch inmitten der in Reih und Glied aufgestellten Heere zu finden, Meldeläufer sind seitlich angeordnet. Demnach könnten die Steinreihen von Carnac ein Kriegerdenkmal sein. Vielleicht sollten die Steinreihen an einen gemeinsamen Kampf mehrerer Stämme gegen einen äußeren Feind erinnern und die Nachfahren ermahnen, ihr Bündnis zu pflegen und fortzusetzen. Möglicherweise dienten die Steinkreise, die an manchen Enden der Steinreihen zu finden sind, als Versammlungs- und Beratungsort. Archäologische Spuren deuten darauf hin, dass die steinzeitlichen Monumente von Carnac über viele Generationen hinweg von Menschen aufgesucht und genutzt wurden.  

Dass der Angreifer, zu dessen Abwehr sich einst mehrere Heere verbündet hatten, vom Meer herkam, erscheint durchaus plausibel. Die Kultur der Ackerbauern und Viehzüchter entstand im vorderen Orient, von wo aus sie sich allmählich ausbreitete. Dafür mussten größere Mengen Saatgut und Vieh transportiert werden, was sich leichter mit Schiffen auf dem Wasserweg als auf dem Landweg bewerkstelligen ließ, zumal es damals weder ausgebaute Straßen noch Karren gab. Die Felsritzungen im schwedischen Tanum, die aus der Bronzezeit (1.800 bis 500 v. Chr.) stammen, zeigen zahlreiche Darstellungen größerer Schiffe, die mit Kriegern besetzt sind. Auch wenn es keine direkten Belege gibt, erscheint es wahrscheinlich, dass es auch bereits in der Jungsteinzeit größere Schiffe gab, mit den küstennah und auf Flüssen Menschen und Waren transportiert werden konnten. Möglicherweise wollte also eine Streitmacht, von den benachbarten britischen Inseln oder aus Skandinavien kommend, den in der Bretagne siedelnden Stämmen das Land streitig machen und landete mit einer Armada an der Küste. Zur Verteidigung ihres Landes verbündeten sich mehrere Stämme, die nach der siegreichen Schlacht an die vielen Toten und die fortdauernde Notwendigkeit des Stammesbündnisses erinnern wollten. 

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Einschätzung des Erklärungsansatzes

Stärken: Grundsätzlich erscheint der Deutungsansatz plausibel, denn auch in späteren Geschichtsepochen war es üblich, Denkmäler für militärische Siege und zur Erinnerung an die Gefallenen zu errichten - man denke beispielsweie an die römischen Triumphbögen oder das Leipziger Völkerschlachtdenkmal. Zudem wird eine Erklärung für die wesentlichen Eigenheiten der Steinreihen geboten: die Anordnung in Gruppen, die Ausrichtung zum Meer und den Zweck der Steinkreise am Kopfende.

Schwächen: Die Deutung als Kriegerdenkmal ist genauso spekulativ wie alle anderen Interpretationen. Schriftliche Zeugnisse aus der Steinzeit gibt es nicht. Direkte Hinweise auf einen militärischen Kontext - etwa Waffenfunde oder symbolische Darstellungen von Kriegshandlungen - wurden in Carnac nicht gefunden.

 

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