Eine besondere Rolle für alle physikalischen Theorien spielen Raum und Zeit, denn sie werden bei allen physikalischen Theorien implizit vorausgesetzt. Physikalische Theorien lassen sich in der Praxis nur anwenden, wenn wir wissen, was „hier“ und „jetzt“ meint. 

Die meisten Physiker nutzen ein Verständnis von Raum und Zeit, das von Philosophen als "Containertheorie" bezeichnet wird: Raum und Zeit bilden die Bühne, auf der das Weltgeschehen abläuft. Physikalische Theorien erklären, was in Raum und Zeit beobachtet wird. Möglicherweise müssen wir jedoch diesen gewohnten Denkrahmen verlassen und den Erklärungsansatz herumdrehen: Statt Raum und Zeit implizit vorauszusetzen, sollte aus den basalen physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgen, wie das zustande kommt, was wir Raum und Zeit zu nennen pflegen. Ein Philosoph, der mit den Begriffen „Explanandum“ ( = das zu Erklärende) und „Explanans“ ( =  das Erklärende) vertraut ist, würde die zu lösende Aufgabe so beschreiben: Vertausche die Rollen von Explanans und Explanandum – kehre die Erklärungsrichtung um!

Wenn wir diesen Pfad einschlagen wollen, müssen wir uns zunächst damit befassen, was Raum und Zeit eigentlich ausmacht. Oder in der Sprechweise des ontogenetischen Denkens ausgedrückt: Wir müssen Raum und Zeit möglichst umfassend phänomenologisch beschreiben und nach einer ontologischen und genetischen Herleitung dieser phänomenologischen Eigenschaften suchen. Zu unserem Glück können wir hier auf die Einsichten großer Denker zurückgreifen.

Immanuel Kant (1724-1804) hat Raum und Zeit als reine Anschauungsformen charakterisiert: Es ist vor jeder Erfahrung gewiss, dass sich jede Wahrnehmung in Raum und Zeit abspielen muss. Raum und Zeit bilden die Bühne, auf der für uns das Schauspiel des Universums zur Aufführung gebracht wird. Mit unserem heutigen neurobiologischen Wissen könnte man auch formulieren, dass unser Gehirn alle Sinneseindrücke räumlich und zeitlich ordnet. Raum und Zeit sind also gewissermaßen „Erfindungen“ unseres Gehirns. Das bedeutet einerseits, dass Raum und Zeit nicht unbedingt auch den Dingen an sich zu eigen sind, d.h. die basalen physikalischen Gesetze möglicherweise nicht in Raum und Zeit ablaufen. Andererseits haben sich die Anschauungsformen von Raum und Zeit offenbar im Laufe der Evolutionsgeschichte exzellent bewährt, um das Weltgeschehen zu deuten, mithin müssen die basalen physikalischen Gesetze das hervorbringen, was wir als Raum und Zeit kennen. Kurzum, es könnte sich lohnen, nach basalen physikalischen Gesetzen zu suchen, die zunächst ohne Raum und Zeit auskommen und deren Wirken erst das hervorbringt, was uns als Raum und Zeit vertraut ist.

Doch welche Eigenschaften haben Raum und Zeit, die es zu erklären gilt?

Der Raum besitzt für uns drei orthogonale Dimensionen, die drei Richtungen des Raumes. Alles, was uns zugänglich ist, existiert im selben Raum. Der Raum hat weder Löcher noch abgetrennte Bereiche, wenn man von den möglicherweise existierenden Schwarzen Löchern absieht. Nach unserer Idealvorstellung ist der Raum homogen und isotrop, d.h. überall und in jeder Richtung gleich.

Die Objekte, mit denen wir im Erfahrungsalltag vertraut sind, haben einen festen Ort im Raum, sie sind lokalisiert. Eine überraschende Einsicht der Quantenmechanik war jedoch, dass dies für die submikroskopischen Bausteine der materiellen Welt nicht mehr gilt. Dass die uns vertrauten Körper einen festen Ort im Raum haben, kommt erst dadurch zustande, dass die materielle Welt über mehrere hierarchische Stufen aufgebaut ist: Elementarteilchen – Atomkerne – Atome – Moleküle – Körper. Erst die Organisationsregeln der höheren Stufen zwingen die Elemente der untergeordneten Stufen dazu, einen bestimmten Raumbereich einzunehmen und diesen nicht zu verlassen. In der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt: Die räumliche Lokalisierung ist eine submergente Eigenschaft. Die basalen Bestandteile der materiellen Welt haben keine räumliche Lokalisierung, sie füllen vielmehr das komplette Universum aus. Dieser Befund ist ein starkes Indiz, dass die von uns vorgeschlagene Umkehrung der Erklärungsrichtung richtig ist: Die basalen physikalischen Gesetze beschreiben nicht die Bewegung lokalisierter Objekte im Raum, vielmehr bringt das Wirken der basalen physikalischen Gesetze erst das hervor, was uns als räumliche Ordnung vertraut ist.

In der heutigen Physik setzen wir „Raum“ mit dem Messen von Abständen gleich. Diesen Denkrahmen müssen wir jedoch verlassen. Stattdessen sollten wir die Einsicht der Quantenphysik ernst nehmen, dass die elementaren Grundbausteine der Welt den uns bekannten Raum des Universums vollständig erfüllen und an allen Orten gleichzeitig sind. Räumliche Lokalisation und mithin das Messen von Abständen sind erst auf höheren Organisationsstufen der Materie möglich. Die basalen physikalischen Gesetze dürfen die Lokalisation im Raum nicht voraussetzen, sondern bewirken die räumliche Ordnung erst. 

Nun wollen wir uns der „Zeit“ und ihren Eigenschaften zuwenden. Der Kirchenvater Augustinus (354 – 430) schrieb in seinen Confessiones: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, vermag ich es nicht zu sagen.“ Zeit ist bis heute ein schwer zu fassendes Phänomen, für das weder die Physik noch die Philosophie eine wirklich befriedigende und umfassende Erklärung haben.

Einstein meinte, Zeit sei schlicht das, was man mit einer Uhr misst. Denn ähnlich wie beim Raum beschränkt sich die heutige Physik auf das Messen von Abständen. Analog zum Raum wird die Zeit als homogen und zusammenhängend angesehen, allerdings mit dem Unterschied, dass die Zeit nur eindimensional ist. 

Essentielle Eigenheiten der Zeit lässt die heutige Physik geflissentlich beiseite: Zeit vergeht ständig. Was eben noch Zukunft war, ist jetzt Gegenwart und gleich Vergangenheit. Die Vergangenheit ist unveränderlich, die Zukunft hingegen noch unbestimmt und in gewissen Grenzen offen. Der Gegenwart kann niemand entrinnen. Die heutigen physikalischen Theorien können weder diese fundamentalen Unterschiede zwischen den drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zufriedenstellend erklären noch den Umstand, dass die Zeit unaufhörlich fließt.

Die von uns gesuchte neue Theorie sollte hingegen in der Lage sein, diese Eigenheiten der Zeit zu erklären. Da das Phänomen der Zeit so verschiedenartige und schwer zu fassende Facetten hat, sollten wir uns allerdings darauf einstellen, dass die menschliche Anschauungsform der Zeit mehrere Effekte zusammenfasst, die auf ganz unterschiedlichen physikalischen Ursachen beruhen. Ein Indiz in dieser Richtung ist der Umstand, dass der Zeitfluss permanent ist und überall wirkt, während manche zeitliche Phänomene reversibel und andere Phänomene irreversibel sind. Die Unterscheidung zwischen den drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann jedoch nur anhand von irreversiblen Ereignissen erfolgen. Zeitfluss und Zeitmodi haben daher vermutlich verschiedene Ursachen.

Um zu einer Theorie zu gelangen, mit der sich die beschriebenen Eigenschaften von Raum und Zeit erklären lassen, müssen wir uns den basalen Elementen der materiellen Welt und ihren Gesetzen zuwenden.

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