In Reden von Politikern und Wissenschaftsmanagern wird häufig die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts beschworen. In der realen Welt ist aber eher das Gegenteil der Fall.

Schon in den 1970er Jahren beschrieb der deutsch-amerikanische Philosoph Nicholas Rescher in seinem Buch Scientific Progress, dass auch beim Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften das altbekannte Prinzip des abnehmenden Grenznutzens zuschlägt: Zuerst wurden die niedrig hängenden Früchte vom Baum der Erkenntnis gepflückt und nun wird es immer aufwändiger, relevante Resultate zu erzielen. Diese These lässt sich mit einem einfachen Argument illustrieren: Die Zahl der Wissenschaftler ist zwischen 1900 und 2020 weltweit mindestens um einen Faktor 100 gestiegen, während die Zahl der jährlich vergebenen Nobelpreise hingegen konstant geblieben ist. Wäre mit dem massiven Zuwachs an Ressourcen für die Wissenschaft auch ein ähnlicher Zuwachs an nobelpreiswürdigen Resultaten verbunden gewesen, müsste es an Kandidaten für die Auszeichnung nur so wimmeln. Tatsächlich ist es aber so, dass die Nobelpreise in Ermangelung konkreter Durchbrüche zunehmend für die Lebensleistung von Wissenschaftlern vergeben werden, deren Namen kaum im Gedächtnis haften bleiben, während die Entdeckungen früher­ Preisträger wie Konrad Röntgen (Physik-Nobelpreis 1901 für die später nach ihm benannten Röntgen-Strahlung), Marie Curie (Physik-Nobelpreis 1903 zusammen mit ihrem Mann Pierre Curie sowie Henri Becquerel für die Untersuchung radioaktiver Strahlung und Chemie-Nobelpreis 1911 für die Entdeckung des chemischen Elements Radium) oder Robert Koch (Medizin-Nobelpreis 1905 für die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers) in Schulbüchern zu finden sind. Dieses plakative Argument lässt sich durch wissenschaftssoziologische Befunde untermauern. So kam eine quantitative Auswertung der 25 Millionen wissenschaftlichen Artikel, die für den Zeitraum 1945-2010 in der Datenbank Web of Science verzeichnet sind, anhand der Zitierhäufigkeiten zu dem Schluss, dass der Anteil von disruptiven Erkenntnissen, die den weiteren Gang der wissenschaftlichen Entwicklung entscheidend beeinflussen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatisch abgenommen hat.

Die Abnahme an grundlegenden Durchbrüchen in der Wissenschaft liegt nicht ausschließlich daran, dass neue Entdeckungen immer schwieriger und aufwendiger werden, je mehr bereits bekannt ist, sondern hat auch mit der Kommunikationsweise in der Wissenschaft zu tun. Wir wollen dies mit einem Gleichnis illustrieren: Stellen wir uns eine Gruppe von Entdeckerinnen und Entdeckern vor, die auf eine unbekannte und unbewohnte Insel gelangt, die mit einem dichten Urwald bewachsen und daher sehr unwegsam ist. Um sich einen Überblick zu verschaffen, machen sich einige aus der Gruppe auf, um die Insel zu erkunden. Mit ihren Macheten bahnen sie sich mühsam einen Weg durch den Urwald. Nach einiger Zeit entdecken sie mehrere Quellen mit Süßwasser, Höhlen und Sträucher mit essbaren Früchten. Die anderen Gruppenmitglieder folgen den Pionieren nach und treten die einmal eingeschlagenen Pfade weiter aus. Die Höhlen werden zur neuen Heimstatt, an den Quellen wird gekocht und geputzt und die Sträucher als Nahrungsquellen genutzt. Mit der Zeit werden aus den mühsam durch den Urwald geschlagenen Pfaden breite Schneisen, auf denen man bequem und schnell vorwärtskommen kann. Niemand kommt auf den Gedanken, die ausgetretenen Pfade zu verlassen.  Erst als sich viele Jahre später ein Jugendlicher im Dickicht verirrt, bemerkt er, dass es einen sehr viel kürzeren Weg zwischen einer der Quellen und den Höhlen gibt. Dabei entdeckte er auch noch eine weitere Art von Sträuchern, deren Früchte genießbar sind.

Dieses Gleichnis beschreibt die Situation in der heutigen Wissenschaft: Das als gesichert geltende Wissen gleicht den ausgetretenen Pfaden, auf denen sich alle vorwärtsbewegen. Wie bei einer Autobahn darf man am Fahrbahnrand nicht halten und das Auto verlassen, um zu Fuß die Umgebung zu erkunden. Wer das tut, wird rasch aus dem Verkehr gezogen. Denn im Wissenschaftsbetrieb sitzen Spitzen­wissenschaftler und Spitzenwissenschaftlerinnen an den Schaltstellen, die kontrollieren, wer am Wissenschaftsbetrieb teilnehmen darf, was in Zeitschriften publiziert und auf Konferenzen vorgetragen werden kann. Was vom akzeptierten Mainstream zu stark abweicht, ist nicht anschlussfähig und findet keinen Eingang in die wissenschaftlichen Kommunikationskanäle. Diese als Peer Review bekannte Qualitätssicherung hat ihren guten Sinn, um Spinner und Unsinn fernzuhalten. Wie alles hat es aber auch eine Kehrseite: Radikal Neues kann sich kaum Gehör verschaffen und erhält damit kaum eine Chance, sich durchzusetzen.

In der Tat sind radikal neue Gedanken und Ansätze in der Erkenntnisgeschichte oft von Leuten gekommen, die außerhalb der etablierten Wissenschaft standen: Albert Einstein (1879-1955) war schweizerischer Patentbeamter und kein Professor für Theoretische Physik, als er seine Spezielle Relativitätstheorie entwickelte und im Jahr 1905 veröffentlichte. Heinrich Schliemann (1822-1890) war ein erfolgreicher Kaufmann und Hobby-Archäologe, der Troja wiederfand. Der Schöpfer der Evolutionstheorie, Charles Darwin (1809-1882), war Privatgelehrter. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war Bibliothekar in Hannover und Wolfenbüttel, die Leipziger Universität hatte ihm die Promotion verweigert. Überhaupt waren die meisten Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften keine hauptberuflichen Wissenschaftler, sondern beschäftigten sich privat mit wissenschaftlichen Fragen. Etliche Naturforscher wie Charles Darwin oder Alexander von Humboldt (1769–1859) waren vermögende Privatleute, andere wie Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Benjamin Franklin (1706-1790) waren hauptberuflich Staatsmänner und nebenberuflich Naturforscher. Die moderne Naturwissenschaft ist im Wesentlichen aus privatem Engagement heraus entstanden und ist kein Produkt der Universitäten, an denen es bis vor 150 Jahren nur vier Fakultäten gab: Theologie, Jura, Medizin und Philosophie.

Während in früheren Zeiten die Weiterentwicklung des Wissenstandes eine exklusive Beschäftigung eines sehr kleinen und überschaubaren Personenkreises war, ist die Wissenschaft heute ein industriell anmutender Großbetrieb. Allein in Deutschland gibt es 50.000 Professuren und mehr als eine halbe Million Beschäftigte in Forschung und Entwicklung. Jedes Jahr werden weltweit mehr als 2 Millionen wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Eine einzelne abweichende Meinung wird in diesem lauten Chor überhört, wenn sie denn überhaupt die Chance erhält, in einem akzeptierten wissenschaftlichen Kommunikationskanal geäußert zu werden.

Mit dem Größenwachstum des Wissenschaftsbetriebs ging eine Spezialisierung in Fächer und Disziplinen einher. Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci (1452-1519), Rene Descartes (1596-1650) oder Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), die einen breiten Wissensüberblick hatten und in verschiedensten Gebieten zum Erkenntnis­fortschritt beigetragen haben, gelten heute als ausgeschlossen. Wer seine intellektuellen Fähigkeiten und die Karrierechancen im akademischen Betrieb realistisch einschätzt, wird nicht auf die Idee verfallen, den etablierten Wissenskanon auf den Kopf stellen zu wollen, sondern sich auf die Kärrnerarbeit konzentrieren, die Frontlinie des bekannten Wissens in einem überschaubaren Abschnitt ein klein wenig nach vorn zu verschieben. Aus schmalen Pfaden des Wissens sind auf diese Weise breite Autobahnen geworden.

Diese Selbstbeschränkung auf den Erkenntnisfortschritt in kleinsten Gebieten entlang der bekannten Pfade verhindert jedoch, Abkürzungen zwischen etablierten Wissensgebieten zu finden oder gar völlig neue Wissensgebiete zu erschließen. Wie in dem eingangs beschriebenen Gleichnis der Entdecker einer Insel hält es niemand mehr für nötig, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, um nach Abkürzungen zu suchen. Unsere Kenntnis von der Insel wird von den breiten Schneisen dominiert, die im Laufe der Erkenntnisgeschichte gebahnt wurden. Da sich die professionellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur noch längs der ausgetretenen Pfade auf kleinen Abschnitten der Insel bewegen, fehlt ein kohärenter Überblick über die gesamte Insel. Es braucht daher den Mut und die jugendliche Unbekümmertheit, doch einmal von den bekannten Pfaden abzuweichen und in den dichten Urwald einzudringen.

 

Die Autoren von welträtsel.org haben sich auf den Weg in den Urwald gemacht, um Abkürzungen und Verbindungen zwischen bekannten Pfaden auf der Insel der Erkenntnis zu finden. Um uns zurechtzufinden, haben wir zwei Hilfsmittel mitgenommen, die uns die Orientierung erleichtert haben: Das erste Hilfsmittel ist eine Heuristik, die wir die ontogenealogische Methode nennen, mit der man jedes reale Objekt analysieren kann. Das zweite Hilfsmittel ist die Allgemeine Systemtheorie, deren Grundkonzepte in vielen Wissensgebieten angewendet werden können.

Wir haben etwas gewagt, was aus guten Gründen als unmöglich gilt. Dafür mussten wir einen Preis zahlen: Unser Unterfangen konnten wir nur als Hobby neben unserer eigentlichen beruflichen Tätigkeit vorantreiben und nicht als professionelle Wissenschaftler, die für ihr Nachdenken bezahlt werden. Und zum anderen müssen wir akzeptieren, in keinem Wissensgebiet wirkliche Fachleute sein zu können. Dafür gelingt es uns hoffentlich, bislang unbeachtet gebliebene Querverbindungen zwischen verschiedensten Wissensgebieten aufzuzeigen und auf dem Weg einige Puzzlestücke zu finden, die unser bisheriges Wissen über die Welt vervollständigen können. Ob unsere Herangehensweise tatsächlich Erfolg verspricht, haben wir an einigen harten Nüssen ausprobiert: Den großen und kleinen Welträtseln.

Lesetipps

  • Michael Park, Erin Leahey und Russel J. Funk: Papers and patents are becoming less disruptive over time, Nature Vol 613 (2023), S. 138-144.
  • John Horgan: An den Grenzen des Wissens, Luchterhand München 1997 (englisches Original: The End of Science: Facing the Limits of Science in the Twilight of the Scientific Age, Broadway Books New York 1996).
  • Nicholas Rescher: Wissenschaftlicher Fortschritt, De Gruyter Berlin 1982 (englisches Original: Scientific Progress, Basil Blackwell Oxford 1978).
  • Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Franfurt/Main 1976 (englisches Original: The Structure of Scientific Revolutions, University of Chicago Press 1962).
  • Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache - Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Schwabe Basel 1935.

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